Elsa Oeltjen-Kasimir
Mädchenkopf „Leni”, 1926
Terrakotta, farbig gefasst
Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg
Inv. 4.135
Rainer Stamm
Im Mai 1927 kam die 27jährige Kunsthistorikerin Hanna Stirnemann (1899–1996) nach Oldenburg, um am Landesmuseum ihr wissenschaftliches Volontariat zu absolvieren. Zuvor hatte sie in Halle (Saale) und Wien studiert und war in Halle bei Paul Frankl mit einer Arbeit über den Stilbegriff des ‚Spätgotischen‘ promoviert worden. Stirnemann gehörte somit zu der ersten Generation von Kunsthistorikerinnen, die nach der allgemeinen Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium in Preußen Kunstgeschichte studieren und in diesem Fach promovieren konnten.
Im Gegensatz zu heute widmete sich ihr Studium ausschließlich historischen Stilepochen. Ein Seminar über die Deutsch-Römer des 19. Jahrhunderts war der weitgehendste Vorstoß in Richtung Gegenwartskunst, den ihr das Studium ermöglicht hatte.
In Oldenburg hatte der Gründungsdirektor des Landesmuseums Walter Müller-Wulckow schon bei der Eröffnung des Museums 1923 eine ‚Moderne Galerie‘ mit Gemälden der Brücke-Künstler Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff sowie mit Werken von Max Beckmann, Paula Modersohn-Becker und Franz Radziwill präsentiert. Hier ließ sich Hanna Stirnemann von der Begeisterung für die Kunst ihrer Gegenwart anstecken und inspirieren.
Als wissenschaftliche Volontärin war sie u.a. mit der Inventarisierung der Sammlung sowie der Neuerwerbungen vertraut. Zu diesen gehörten auch zwei Plastiken der Bildhauerin Elsa Oeltjen-Kasimir (1887–1949), die seit 1919 mit ihrem Mann Jan Oeltjen in Jaderberg im Oldenburger Land lebte. Elsa Kasimir stammte aus einer slowenischen Künstlerfamilie, hatte an der Wiener Kunstgewerbeschule studiert und in Wien Oskar Kokoschka kennengelernt, der von der Künstlerin fasziniert war. Nach ersten Ausstellungserfolgen in Wien hatte sie 1910 den aus Jaderberg stammenden Maler Jan Oeltjen (1880–1968) kennengelernt, den sie im folgenden Jahr heiratete.
In Jaderberg widmete sie sich erstmals der Arbeit mit dem im nahegelegenen Bockhorn zu Klinkersteinen verarbeiteten Ton, und es entstanden ausdrucksstarke Plastiken.
Im November 1926 hatte Walter Müller-Wulckow mit Oeltjen-Kasimirs Portraitplastik „Ruth“ (1925) aus der von der Vereinigung für junge Kunst veranstalteten Ausstellung „Junge Oldenburger“ ein erstes Werk der Bildhauerin für die Sammlung des Landesmuseums erworben. ((Abb. Inv. 4.136)) Während dieses unter hohen Temperaturen zu einer dunkel rotbraunen Klinkerplastik gebrannt worden war, bezieht die ein Jahr später entstandene Portraitplastik „Leni“ ihren Reiz aus der lichten, helleren und bei geringeren Temperaturen gebrannten Terrakottafarbe des Materials, die von der Künstlerin durch zarte Farbakzente verlebendigt wurde.
Hanna Stirnemann, die die beiden Plastiken in den ersten Monaten ihrer Arbeit am Landesmuseum im Rahmen ihrer Inventarisierungsarbeiten studierte, war von der Ausdruckskraft und sinnlichen Ausstrahlung der Arbeiten Elsa Oeltjen-Kasimirs fasziniert: Nach ihrem Studium der klassischen Kunstgeschichte hatte sie es nun mit Werken zu tun, die in ihrer eigenen Gegenwart entstanden waren – und die zudem von einer Frau stammten.
Die Arbeiten Oeltjen-Kasimirs inspirierten sie daher zu ihrer ersten Aufsatzpublikation, die im November 1927 in der illustrierten Zeitschrift Die Frau und ihr Haus erschien, in der auch Müller-Wulckow zuvor publiziert hatte. In ihrem Beitrag schwärmt Stirnemann nicht nur von den kurz zuvor erworbenen Plastiken, sondern auch von der beginnenden Wertschätzung für die Kunst von Frauen, für die sie sich selbst – in allen ihren späteren beruflichen Stationen – mit großer Leidenschaft engagieren wird:
„Die Existenz der schöpferischen Frau in der Kunst wird heute nicht mehr diskutiert, sondern gewußt und geglaubt“, schreibt sie in pathetischen Worten: „Vor ihrer Offenbarung in den Werken der Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker und Renée Sintenis u. a. müssen zweifelnde Stimmen schweigen und schweigen auch. Hier liegt vor uns die Entwicklung und Steigerung der Frau zur Frau, nicht zum Manne hin oder an ihm orientiert. (...) Die Schwere des ersten Weges verlieh den Werken dieser Frauen den heiligen Ernst einer Mission. – Elsa Oeltjen-Kasimir ist Frau, Mutter und Künstlerin und erfüllt von diesen Aufgaben.“
Die sinnliche Präsenz des „mit feinem Gefühl“ in hellrötlich-gelber Terrakotta gebrannten Portraitkopfs des 16-jährigen Mädchens „Leni“ beschreibt Stirnemann in präzisen Worten:
„Lippen und Wangen sind sogar mit Rot aufgehöht und am Sockel ist wenig Blaufarbe metallisch glänzend. Der Kopf ist etwas aufgehoben und leicht nach rechts gelegt (...). Zwei starke Zöpfe verfestigen diese schwebende Haltung wieder. (...) Die hochbogigen von der Nasenwurzel ausgehenden Brauen geben der Stirn eigenwillige Begrenzung und die schmalen etwas schräg stehenden Augen gehen wiederum damit nicht zusammen und haben einen Ausdruck von erträumter Hingabe an etwas, was der Mund noch verwehrt.“
Für Hanna Stirnemann ((Abb. Inv. 31.276)) wurden die Zeit ihrer Arbeit am Landesmuseum Oldenburg, ihre Begegnung mit den Werken der Gegenwartskunst und ihre Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst von Frauen zu den entscheidenden Lehrjahren, die ihren späteren Lebensweg prägten: 1929 bekam sie die Chance, das Heimatmuseum im thüringischen Greiz aufzubauen, womit sie sich für ihre Tätigkeit am Stadtmuseum Jena qualifizierte. 1930 wurde sie hier zur ersten Museumsdirektorin der Weimarer Republik ernannt – bis sie 1935 von den Nationalsozialisten aufgrund ihres Engagements für die Moderne zum Rücktritt gezwungen wurde.
Nach Jahren des erzwungenen Rückzugs wurde sie 1946, im thüringischen Rudolstadt, erneut zur Museumsdirektorin ernannt, bis sie 1950 vor den Drangsalierungen ihrer Arbeit durch das DDR-Regime nach Westberlin floh, wo sie bis zu ihrem Tod 1996 lebte.
Zum 125. Geburtstag Hanna Stirnemanns würdigt das Landesmuseum Oldenburg seine einstige Mitarbeiterin durch die Einrichtung einer Hanna Stirnemann-Lounge im Oldenburger Schloss, dem einstigen Ort ihrer Arbeit, sowie durch die Herausgabe der ersten Biographie der mutigen und kompromisslosen Kunsthistorikerin, die eine Pionierin ihres Berufsstandes war.
Literatur:
Hanna Stirnemann: Plastische Arbeiten von Elsa Oeltjen-Kasimir, in: Die Frau und ihr Haus, 8. Jg., H. 11 v. November 1927, S. 347
Hanna Stirnemann: Nordwestdeutsche Klinkerplastik von Elsa Oeltjen-Kasimir, in: Die Tide. Niederdeutsche Heimatblätter, 6.1929, H. 4, S. 155-157
Elsa Oeltjen-Kasimir (1887-1944). Werkverzeichnis: Das plastische Werk, hg. v. Künstlerhaus Jan Oeltjen e.V., bearb. von Ulrich Hollweg, Luise und Lür Steffens, Jaderberg 2015
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