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Johannes Wüsten
Lotte Wegeleben, 1930

Kupferstich
erworben 2000 als Leihgabe aus Privatbesitz
Inv. L-25.206

Juliane Peil

Johannes Wüsten (1896–1943), geboren in Heidelberg und aufgewachsen in Görlitz, war ein vielseitiger Künstler und Schriftsteller. Er gilt neben dem Grafiker Karl Rössing (1897–1987) als zentraler Vertreter der deutschen Stecherbewegung des 20. Jahrhunderts. Als Erneuerer des Kupferstichs schuf er Werke, die technische Qualität mit scharfsinniger Zeitkritik verbanden.

Wüsten begann 1912 auf Wunsch seiner Eltern zunächst eine Tischlerlehre in Dresden, die er zwei Jahre später aus gesundheitlichen Gründen abbrach. Daraufhin erhielt er ab 1914 eine künstlerische Ausbildung bei Otto Modersohn in Worpswede, wurde aber im Sommer 1916 in den Ersten Weltkrieg eingezogen. Nach diesen prägenden Erlebnissen wandte sich Wüsten erneut der Kunst und Literatur zu, arbeitete als Maler in Hamburg und wurde Mitbegründer der „Hamburgischen Sezession“. Neben expressionistischen Tafelbildern, Pastellen und Holzschnitten entstanden auch erste literarische Arbeiten.

1922 kehrte Wüsten nach einer Studienreise durch Holland nach Görlitz zurück. Dort gründete er gemeinsam mit seiner späteren Frau Dorothea Koeppen (1893–1974) und seinem Bruder Theodor (1906–1959) eine keramische Werkstatt. Die Manufaktur für Keramiken und Fayencen bestand bis 1925. Im selben Jahr wurde Wüsten nicht nur Vorsitzender der „Görlitzer Künstlerschaft“, sondern richtete auch eine private Malerschule ein. Der Unterricht fand in den Nachmittagsstunden statt, seine Schüler:innen zahlten 20 Mark im Monat. Zusätzlich verdiente er seinen Unterhalt mit journalistischer Gelegenheitsarbeit und keramischer Produktion.

Ab Ende der 1920er Jahre eignete sich Wüsten die Technik des Kupferstichs autodidaktisch an. Bereits im 15. Jahrhundert entwickelte sich der Kupferstich als erstes Tiefdruckverfahren aus der Gravurtechnik der Goldschmiede. Mit einem sogenannten Stichel werden feine Linien in eine Kupferplatte geritzt, die anschließend mit Farbe eingefärbt und unter hohem Druck auf Papier übertragen werden. Diese Technik erfordert größte Präzision und Geduld, erlaubt aber gleichzeitig eine außergewöhnliche Detailgenauigkeit und Ausdruckskraft.

Der Künstler fand im Kupferstich die ideale Ausdrucksform, um gesellschaftskritische und zeitgenössische Themen aufzugreifen. Inspiriert von Albrecht Dürer und Kupferstichen des Barock, verband Wüsten altmeisterliche Techniken mit modernen Ausdrucksformen der Neuen Sachlichkeit und des Verismus.

Mit seinen Schüler:innen, darunter Charlotte bzw. Lotte Wegeleben (verh. Tschierschky, 1908–1987) und Josef Bankay (1903–1975), bildete er die „Görlitzer Stechergruppe“, die die Tradition des Kupferstichs zu neuem Leben erweckte. Ihre Werke wurden in renommierten Ausstellungen präsentiert und fanden Beachtung bei Kritikern wie Kurt Tucholsky (1890–1935), der Wüstens Arbeiten als großartig, famos und „herrlich böse“ lobte. Zudem verglich er sie mit Blättern von George Grosz (1893–1959) und Alfred Kubin (1877–1959).

Neben satirischen Gesellschaftsszenen und grotesken Darstellungen umfassen seine Werke auch einfühlsame Porträts. Ein herausragendes Beispiel seines Schaffens ist das 1930 entstandene Porträt seiner Kollegin und Schülerin Lotte Wegeleben. Es zeigt die Grafikerin als Verkörperung der selbstbewussten und emanzipierten „Neuen Frau“ der Weimarer Republik. Wegeleben sitzt halbseitig den Betrachtenden zugewandt auf einem Stuhl. Sie hält eine Zigarette in der linken Hand, das Handwerkszeug einer Kupferstecherin – Spiegel und Stichel – liegen vor ihr auf dem Tisch. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um Wüstens Arbeitstisch in seinem Atelier, welcher laut Dorothea Wüsten „längs vor dem Fenster [stand], abgeschirmt […] durch einen mit Pauspapier bespannten Rahmen, um das Blenden durch die blanke Kupferplatte zu verhindern“. Im Hintergrund ist die Görlitzer Peterskirche zu erkennen, ein wiederkehrendes Motiv in seinem Œuvre, das Wüstens enge Verbundenheit mit seiner Heimatstadt unterstreicht. Die detaillierte und klare Linienführung des Kupferstichs betont die handwerkliche Kunstfertigkeit sowie den modernen Geist Wüstens.

Lotte Wegeleben selbst wandte sich Ende der 1920er Jahre von ihrem früheren Beruf als Erzieherin ab, um einer Karriere als Künstlerin nachzugehen. Ihre Freundschaft und Zusammenarbeit mit Wüsten prägten ihr Schaffen. Nachdem sie und der Glasschleifer Josef Bankay die Malerschule 1931 verließen, löste sich die Gruppe auf. 1934 zog die Grafikerin zu ihrem späteren Mann, dem Architekten Siegfried Tschierschky, nach Berlin. Sie arbeitete u.a. als Kupferstecherin in der Reichsdruckerei und gilt als wichtige Vertreterin ihres Fachs, auch wenn die politische Lage ihre künstlerische Entwicklung stark beeinträchtigte.

Angesichts des erstarkenden Nationalsozialismus engagierte sich Wüsten früh politisch und trat 1932 der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei. Seine Kunst reflektierte zunehmend gesellschaftskritische und antifaschistische Themen. Diese Ausrichtung seiner Kunst führte dazu, dass Wüsten immer seltener in Görlitz ausgestellt wurde. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten floh er 1934 ins Exil nach Prag, wo er als Pressezeichner und Schriftsteller häufig unter den Pseudonymen Peter Nikl oder Walter Wyk wirkte. 1938 flüchtete er nach Paris, wurde jedoch 1941 von der Gestapo verhaftet und 1943 im Zuchthaus Brandenburg inhaftiert. Dort verstarb er noch im selben Jahr an Tuberkulose.

Ein Großteil von Wüstens künstlerischem und literarischem Werk ging im Zweiten Weltkrieg verloren. Dennoch gilt er als Erneuerer des Kupferstichs und bedeutender Vertreter der gesellschaftskritischen Kunst der Weimarer Republik.

Literatur:
Punkt und Linie – Schwarz auf Weiß. Zur Renaissance des Kupferstichs im 20. Jahrhundert, Ausst.-Kat. Städtische Kunstsammlungen Görlitz, 1996.
Ein starkes Talent. Johannes Wüsten als Expressionist und Sezessionist in Hamburg 1918–1922 , Ausst.-Kat. Städtische Sammlungen für Geschichte und Kultur Görlitz, 2002.

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