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Unbekannter Künstler
Spiegelkapsel mit Madonna, Frankreich, 14. Jh.

Elfenbein
Aus der Großherzoglichen Sammlung vaterländischer Altertümer
Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg
Inv. 3.057

Yasmin Maaß

Wann und von wem der erste Spiegel erfunden wurde, ist nicht bekannt. Spiegel sind in vielen Kulturen zu finden. Zu den frühen schriftlichen Hinweisen zur Spiegelproduktion gehören Inschriften in Keilschrift auf Tontafeln der Sumerer (ab 3.000 v. Chr.), die im Süden Mesopotamiens lebten. Bis heute sind antike Metallspiegel aus dem griechischen und römischen Raum in diversen Sammlungen erhalten. Im Laufe der Geschichte entwickelten sich Spiegel mit ihren Materialien, Formen und Einfassungen immer weiter. Spiegel, die als Objekte das Reflektierte durch Lichtkrümmung abbilden, scheinen jedoch noch viel mehr zu sein: Sie sind magisch, metaphorisch und medial. Der Begriff „Spiegel“ wird als sprachliche Figur in Sprichwörtern oder als Bezeichnung für eine Literaturgattung genutzt. Als Symbol in der Kunst nimmt er verschiedene Funktionen ein, wie zum Beispiel als Attribut der Wollust (lat. „Voluptatis“). Sie treten jedoch auch als Gebrauchsgegenstände zur Überprüfung des äußeren Erscheinungsbildes in mittelalterlichen Buchillustrationen auf. 

Als Objekt ist ein Spiegel von einer Einfassung umgeben, die über ihn selbst hinausweist und ihm einen Zweck zukommen lässt. So auch bei dieser Spiegelkapsel aus dem 14. Jahrhundert, die mit einem Durchmesser von 8,6 cm einfach in die Hand genommen werden konnte. Sie gehört zu den im Mittelalter verbreiteten Spiegelkapseln. In diese Formen wurde ab dem 13. Jahrhundert mit Blei und Zinn hinterlegtes Glas oder konvexförmiges poliertes Metall gefasst. Aufgrund der Zerbrechlichkeit des Materials sind aus dem Mittelalter zumeist nur noch die Rahmen aus Metall, Holz oder Elfenbein erhalten.

Letzteres ist auch das Material dieser Spiegelkapsel. Sie wurde in einer der im 14. Jahrhundert beliebten französischen Werkstätten für Elfenbeinschnitzereien hergestellt. Hier wurden für Spiegelkapseln zumeist weltliche Motive der Liebeswerbung wie zum Beispiel die Eroberung der Minneburg gewählt. Die Motive verweisen darauf, dass die Spiegelkapseln auch als Liebesgaben überreicht wurden. 
 

 

Die Kapsel des Landesmuseums ziert jedoch ein sakrales Motiv. Das hochgotische Relief zeigt ein Marienbildnis, das auf die innige Verbindung von Mutter und Sohn verweist. Beide sind mit einem Nimbus dargestellt. Marias wallendes, weites Gewand, ihre thronende Position sowie ihre Krone drücken ihre Hoheit aus. Statt eines herrschaftlichen Zepters hält sie eine Lilie in ihrer rechten Hand, nach der Jesus, der auf ihrer linken Schoßseite sitzt, greift. Die zwei Blumen am Stängel weisen auf den Gegensatz von Göttlichem und Weltlichem. Die Blume selbst steht für Maria sowie für ihre Keuschheit und Seelenreinheit.

Ab dem Konzil von Ephesos 431 n. Chr. standen Spiegel auch in metaphorischer Verbindung mit Maria. Diese Verbindung wurde vor allem in einer der Marienpredigten von Jacobus de Voragine (1230–1298) gestärkt. Er verstand das Spiegelmaterial als ein Symbol von Marias Empfängnis selbst. So durchdringe Licht das Glas, ohne es zu beschädigen. Darüber hinaus würden die Formbarkeit sowie die Farbe des Bleis ihre Demut symbolisieren. Maria sei der Spiegel Gottes und der menschlichen Seele. Sie würde die Stolzen durch ihre Demut, die Geizigen durch ihre Armut sowie die Lüsternen durch ihre Jungfräulichkeit deren eigene Sünden erkennen lassen und sie so zur Besserung ermahnen. 
Das Motiv und der Spiegel selbst stehen daher in einer engen Verbindung. Nach dem bereits in der Antike bekannten Motto „Erkenne dich selbst“ ermahnte der Spiegel so bei der Betrachtung des eigenen Bildes zur Selbstreflexion. Das Objekt verbindet das Weltliche und das Spirituelle wie auch die Hostien, von dessen Behältnis diese Spiegelkapsel laut dem Inventarbuch der Großherzoglichen Sammlung vaterländischer Altertümer stammen soll.

Die Verbindung zwischen Geistigem und Weltlichem deutet auch auf die magische Funktion von Spiegeln hin, die ihnen seit der Antike zugeschrieben wurde. Als Schutz- und Heilsspiegel waren sie durch ihre reflektierende Wirkung mehr als nur ein Unheil abwehrendes Objekt. So bewahrten Wallfahrtsspiegel laut dem Glauben von christlichen Pilgernden den Segensschein einer gespiegelten Reliquie bis zu ihrer Ankunft zu Hause.
 

Literatur:
Dumitrescu-Krampol, Anu: Spiegelkapsel mittelalterlicher Hofkultur: Zwischen amouröser Allegorie und adligem Alltag, in: the ARTicle, doi.org/10.58079/uqtc (letzter Zugriff: 8.10.24).
Hartlaub, Gustav F.: Zauber des Spiegels. Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst, München 1951.
Kacunko, Slavko: Spiegel – Medium – Kunst. Zur Geschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes, München 2010.
Richardson, Ernest Cushing: Materials for a Life of Jacopo da Varagine, Part 2: Latin writings, New York 1935.

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