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Lieselotte Kantner (Designerin), Melitta (Ausführung)
Melitta Service „Stockholm“, Dekor Zitronengelb, 1961-1963,
und Dekor Kobaltblau, 1961-1977

Steinzeug
Erworben 2012 als Schenkung
Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg
Inv. 29.834 und 29.861

Juliane Peil

Lieselotte Kantner – Form für den Alltag

Wer heute über Flohmärkte schlendert oder Designklassiker auf Onlineplattformen sucht, begegnet ihnen vielleicht: den schlichten, schnörkellosen Kaffeeservices aus den 1960er- und 1970er-Jahren – in kühlem Kobaltblau, sanftem Grün oder bernsteinfarbener Glasur. Zeitlos und funktional, dabei elegant und überraschend modern. Hinter diesen Entwürfen steht eine der stillen Pionierinnen des deutschen Industriedesigns: Lieselotte Kantner.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann in Deutschland nicht nur ein umfassender wirtschaftlicher, sondern auch kultureller Neuanfang. Fabriken waren zerstört, Rohstoffe knapp, das Vertrauen in Technik und Fortschritt musste neu gewonnen werden. Viele Unternehmen mussten sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch neu ausrichten. Auch die während der NS-Zeit als sogenannter Musterbetrieb ausgezeichneten Melitta-Werke vollzogen nach 1945 den Übergang von der Kriegs- zur Konsumwirtschaft. In dieser Zeit der Neuorientierung wuchs die Bedeutung des Designs. Gebrauchsgegenstände sollten sowohl funktional als auch langlebig und zugleich Ausdruck eines modernen, demokratischen Lebensgefühls sein. Der Gedanke der „Guten Form“ – klar, zweckmäßig, ehrlich im Material – wurde zum Leitmotiv einer jungen Generation von Gestalter:innen.

Frauen waren an dieser Entwicklung beteiligt, blieben in den leitenden Positionen der Industrie aber meist unsichtbar. Dass sich Lieselotte Kantner in diesem Umfeld behauptete, war ungewöhnlich und bemerkenswert.

Geboren 1923 in Breslau, begann sie ihre Ausbildung zunächst als Schneiderin, bevor sie sich nach 1945 der Keramikgestaltung zuwandte. An der Fachschule für angewandte Kunst in Sonneberg schloss sie 1950 als „beste Formgestalterin“ ihres Jahrgangs ab. Früh zeigte sich ihr Gespür für Proportion, Material und Gebrauchstauglichkeit. In der jungen DDR wirkte sie zunächst am Institut für industrielle Formgestaltung in Berlin-Weißensee, wo sie Seite an Seite mit bekannten Designern wie dem gebürtigen Niederländer Mart Stam (1899–1986) arbeitete. Gemeinsam entwickelten sie neue Gebrauchsformen für die keramische Industrie – eine Gratwanderung zwischen Kunst und industrieller Fertigung. Ende der 1950er-Jahre verließ Kantner die DDR. Ihr Wechsel in die Bundesrepublik war weniger ein politischer Schritt als Ausdruck des Wunsches nach gestalterischer Freiheit.

1959 übernahm Kantner die Leitung der Designabteilung bei Melitta/Friesland Porzellan in Minden. Fast zwei Jahrzehnte prägte sie dort das Erscheinungsbild des Unternehmens. Während Melitta vor allem für seine Kaffeefilter bekannt ist, umfasste das Sortiment eine große Bandbreite an Gebrauchskeramik. Kantner war für Form und Dekor verantwortlich – von Porzellan über Steingut bis zu dem neu entwickelten Material Ceracron.

Zu ihren bekanntesten Entwürfen zählt das Service „Stockholm“ (1961), ausgezeichnet auf der Sonderausstellung Die gute Industrieform in Hannover. Seine ausgewogene, geometrisch klare Form und das kräftige Kobaltblau verkörpern Kantners Gestaltungsprinzipien: Schlichtheit, Funktionalität und Ehrlichkeit im Material. Letzteres bedeutet, dass die guten Eigenschaften eines Materials hervorgehoben werden, anstatt sie zu verbergen oder zu verfälschen. Auch spätere Serien wie „Hamburg“ oder „Kopenhagen“ zeigen Kantners Handschrift: klare Linien, funktionale Proportionen und ein zurückhaltender, aber sicherer Umgang mit Farbe und Dekor.

Sie selbst beschrieb gute Gestaltung als etwas, „das sich nicht aufdrängt, aber bleibt“ – tatsächlich sind ihre Formen funktional. Ihre Kannen gießen tropffrei, die Henkel liegen angenehm in der Hand, Glasuren zeigen handwerkliche Qualität, obwohl sie industriell gefertigt wurden. Materialgerechtigkeit – also die Verwendung eines geeigneten Materials entsprechend seiner Eigenschaften – war ihr ebenso wichtig wie Alltagstauglichkeit. Sie wollte Gebrauchsgegenstände entwerfen, die langlebig, bezahlbar und schön waren. In einer Zeit, in der Formgebung oft zur Stilfrage wurde, hielt sie an der Idee des Gebrauchsdesigns fest – ihr Ziel war eine „Demokratisierung des Schönen“: Design für viele statt für wenige.

Während Frauen häufig in Kunstgewerbeschulen vertreten waren, gelang ihnen selten der Sprung in leitende Positionen. Viele arbeiteten im Hintergrund als Entwerferinnen ohne Namensnennung. Umso bemerkenswerter ist der berufliche Weg von Lieselotte Kantner, die es in den 1950er- und 1960er-Jahren schaffte, innerhalb der keramischen Industrie eine unverwechselbare gestalterische Handschrift zu entwickeln. Als Chefdesignerin bewegte sich Kantner zwischen künstlerischem Anspruch und industriellen Vorgaben. Serienfertigung verlangte besonders als Frau in einer männerdominierten Branche technisches Wissen, Verhandlungsgeschick und Kompromissbereitschaft. Dabei bewies sie Beharrlichkeit und Überzeugungskraft. Sie entwickelte Formen in enger Zusammenarbeit mit Modellwerkstätten, testete Glasuren selbst und achtete darauf, dass sich die ästhetische Idee in der Fertigung bewahren ließ.

Wer heute eine Kanne, einen Teller oder eine Schale aus der „Stockholm“-Serie betrachtet, begegnet nicht nur einem Gebrauchsgegenstand, sondern einem Stück Nachkriegskultur. Die klaren Linien, die ruhige Farbigkeit und die sorgfältig durchdachten Proportionen verkörpern ein Verständnis von Schönheit, das aus dem Alltag heraus gedacht ist. Auf diese Weise prägte sie nicht nur das Bild der „Guten Form“ in der jungen Bundesrepublik, sondern trug wesentlich zur Öffnung des Industriedesigns für Frauen bei.

Viele ihrer Arbeiten sind bis heute in Museen und Sammlungen vertreten, etwa im Schlossmuseum Jever, im Kunstgewerbemuseum Berlin oder im Grassi-Museum Leipzig. Die zeitlosen Stücke aus der „Stockholm“-Serie gelten als Klassiker des deutschen Nachkriegsdesigns. Manche Formen, wie das Service „Jeverland“ von 1975, sind bis heute in Produktion und zeigen, wie nachhaltig Kantners Arbeit das visuelle Erbe der Marke Friesland geprägt hat.

Lieselotte Kantners Werk erinnert daran, dass Formgebung keine Nebensache ist, sondern Ausdruck kultureller Haltung. Ihre Entwürfe erzählen vom Vertrauen in Fortschritt, Funktion und Einfachheit – von einer Zeit, in der die Moderne in den deutschen Alltag einzog.

Literatur:
Maren Siems (Hrsg.): Melitta und Friesland Porzellan: 60 Jahre Keramikherstellung in Varel, Oldenburg: Isensee 2015.
 

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