Die Provenienzforschung ist eine wissenschaftliche Disziplin an Museen, Bibliotheken und Archiven, deren vornehmliche Aufgabe es ist, die Herkunft, Sammlungs- und Eigentumsgeschichte von Kunst- und Kulturobjekten zu klären. Ein Schwerpunkt liegt dabei in der Auffindung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kunst- und Kulturgut, das zwischen 1933 und 1945 den Besitzer wechselte und dessen Eigentumssicherheit ungeklärt ist. Kunstwerke, Bücher, Möbel, Schmuck und Haushaltsgegenstände aus vornehmlich jüdischem Vorbesitz wurden von den nationalsozialistischen Machthabern mit dem Ziel der "Verwertung" beschlagnahmt, unter Zwang oder aus wirtschaftlicher Not von den Eigentümern veräußert oder mussten auf der Flucht zurückgelassen werden. Über den Kunst- und Antiquitätenhandel oder private Verkäufer gelangten zahlreiche dieser Objekte in öffentliche Sammlungen – ihre Herkunft blieb zumeist ungeklärt.
Nachdem 1998 auf der "Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust" von 44 Nationen die "Washington Principles" (Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden) unterzeichnet worden waren, erfolgte im Dezember 1999 die "Gemeinsame Erklärung" von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden, in der die Identifikation und Rückgabe "NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz" als fortwährende Aufgaben für die öffentlichen Einrichtungen in Deutschland formuliert wurden.
Seit 2011 untersucht der Provenienzforscher Dr. Marcus Kenzler die vielfältigen Sammlungen des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg systematisch auf ihre Herkunft und die Erwerbungszusammenhänge. Von den weit über 30.000 Kunstwerken und kulturhistorischen Objekten müssen sämtliche seit 1933 erworbenen und vor 1945 entstandenen Exponate auf den Prüfstand gestellt werden – also rund zwei Drittel der Bestände. Die vielfältige Sammlungsstruktur des Museums, das als klassisches Mehrspartenhaus sowohl regionales als auch überregionales Kunst- und Kulturgut aus mehreren Jahrhunderten bewahrt, stellt dabei eine ganz besondere Herausforderung für die Provenienzforschung dar, da nicht nur Werke der bildenden Kunst, sondern auch Möbel, Keramiken, Silber und Alltagsgegenstände auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Ziel ist die lückenlose Aufarbeitung der jeweiligen Provenienz und die Identifizierung von NS-verfolgungsbedingt entzogenen oder veräußerten Sammlungsstücken. Ermöglicht wurde dies zunächst durch Mittel des Landes Niedersachsen und später durch die Förderung mit Mitteln der Staatsministerin für Kultur und Medien. 2016 hat das Land Niedersachsen die Provenienzforschung am Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg verstetigt und damit eine konsequente und systematische Fortführung der bisherigen Arbeit ermöglicht. Bis heute konnten zahlreiche Sammlungsstücke als dringende Verdachtsfälle oder eindeutiges „NS-Raubgut“ identifiziert werden, 2014 erfolgten erste Restitutionen.
Seit Aufnahme der Provenienzforschung am Landesmuseum Oldenburg ermöglichen regelmäßige Führungsangebote für verschiedene Zielgruppen vertiefende Einblicke in die Anliegen und Ziele von Provenienzforschung und vermitteln einen sammlungsübergreifenden Überblick über bislang untersuchte Werke und Objekte. Ergänzung erfährt das didaktische Programm durch regelmäßige Vorträge, Workshops und Fortbildungen, die sich sowohl an Laien als auch Museumsfachleute richten. Eine 2012 mit der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg vereinbarte Kooperation ermöglicht es darüber hinaus Master-Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen, Theorie und Praxis der Provenienzforschung in aufeinander aufbauenden Seminar- und Übungsveranstaltungen kennenzulernen.
Im Kanon der didaktischen Möglichkeiten stellt das Ausstellen von Provenienzforschung eine konsequente und zugleich für ein Museum naheliegende Weiterentwicklung des Angebotes dar. Die Sonderausstellung „Herkunft verpflichtet! Die Geschichte hinter den Werken“ lud im Oldenburger Schloss auf einen narrativen Entdeckungsgang ein, der durch die Verbindung von Resultaten und Erkenntnissen aus den zurückliegenden sieben Jahren Provenienzforschung in Oldenburg und den aus der täglichen Kulturberichterstattung bekannten Schlüsselbegriffen ein Gesamtbild vermittelte, das regionale Forschungen im Kontext genereller Aspekte der Provenienzforschung präsentierte. Wie in einem begehbaren Lexikon konnte das Thema Provenienzforschung in seinen unterschiedlichen Facetten von A bis Z kennengelernt werden. Während Schlüsselbegriffe wie „Auktion“, „Gurlitt“ oder „Restitution“ Grundlagen und Hintergrundwissen vermittelten, wurden mit Schlagworten wie „Hollandmöbel“, „Mogrobi“, „Israels“ oder „Tauschgeschäfte“ Forschungsergebnisse des Landesmuseums präsentiert. Ein eigens für die Ausstellung produzierter Dokumentarfilm veranschaulichte die wissenschaftliche Methode der Rückseitenanalyse und zeigte Schritt für Schritt die Untersuchung von Gemäldebeständen. Auch über die Suche nach NS-Raubgut hinausreichende Themen wie das koloniale Erbe Deutschlands und Kulturgutverluste in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR fanden in der Ausstellung Erwähnung.
Dem programmatischen Ansatz der Ausstellung folgt auch die Begleitpublikation, die als Nachschlagewerk zur Provenienzforschung nicht nur in Oldenburg und im Nordwesten Deutschlands dienen soll. Die 101 knappen und verständlich formulierten Schlagworte, die weit über das in der Ausstellung Gezeigte hinausgehen, geben einen guten Überblick über ein komplexes Forschungsfeld und wenden sich dabei an eine breite Leserschaft. Die Publikation kann über das Landesmuseum bezogen werden.
Durch den „Schwabinger Kunstfund“ wurde die Frage nach dem Umgang mit NS-Raubgut in privaten Sammlungen und Haushalten aufgeworfen und seitdem kontrovers diskutiert. Dem Anspruch der Opfer des Nationalsozialismus auf Rückgabe von geraubtem oder abgepresstem Eigentum und der notwendigen Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts steht der Schutz von Privateigentum als Grundrecht gegenüber. Berücksichtigt werden muss zudem das Bestreben von Privatpersonen, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten und verdächtige Erbstücke auf ihre Herkunft zu untersuchen. Auch bedarf es einer Lösung für potentielles Raubgut, das nicht länger in Privatbesitz verbleiben soll.
Das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg und das Stadtmuseum Oldenburg gründeten 2014 die kooperative „Restitutionssammlung“, die außerhalb der Sammlungsstruktur beider Häuser angelegt ist und als treuhänderischer Verwahrungsraum fungiert. Privatpersonen können verdächtige oder bereits als Raubgut identifizierte Stücke als Leihgabe in diese Sammlung geben, in der sie mit dem Ziel der Restitution verwahrt werden. Auf Wunsch kann dies anonym geschehen, so dass Sorgen um den Ruf der Vorfahren keinen Hinderungsgrund darstellen. Damit die belasteten Stücke nicht dauerhaft in den Museen verbleiben, wird ein Leihvertrag aufgesetzt, der die Befristung der Objektübernahme regelt. Darüber hinaus wird schriftlich vereinbart, dass sich der Leihgeber mit der Restitution einverstanden erklärt, sollte sich die Herkunft des betreffenden Werkes oder Objektes klären lassen. Ziel ist es, potentielles NS-Raubgut aus der geschützten Privatsphäre in einen öffentlichen Raum zu überführen, so dass es gezeigt, gesehen und eventuell wiedererkannt werden kann. Zu diesem Zweck werden die Leihgaben in der „Lost Art Internet Database“ des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste veröffentlicht, zudem sollen sie in Sonderausstellungen zu sehen sein. Beabsichtigt ist, die Exponate der Restitutionssammlung mithilfe von Forschungsförderung auf ihre Herkunft zu untersuchen. Anfang des Jahres 2017 konnte mit dem Schlossmuseum Jever ein neuer Kooperationspartner gewonnen werden, der als Ansprechpartner für den Landkreis Friesland fungiert. Der Aktionsradius der Restitutionssammlung erstreckt sich somit auf die gesamte Region Weser-Ems bzw. das Oldenburger Land.
Kontakt:
Dr. Marcus Kenzler
Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg
Prinzenpalais
Damm 1
26135 Oldenburg
Telefon: (0441) 40570-407
m.kenzler@landesmuseen-ol.de