Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Physiognomische Studie mit sechs Köpfen (Studie zur Eselsgeschichte), um 1799
Feder auf Büttenpapier
Alter Bestand
Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg
Inv. 15.070
Anna Heinze
Seit der Antike hat es immer wieder systematische Versuche gegeben, aus den äußeren Merkmalen eines Menschen – insbesondere des Gesichts – auf die charakterlichen Eigenschaften der Person zu schließen. Im 18. Jahrhundert erreichte diese Methodik ihren Höhepunkt: Die sogenannte Physiognomik galt als „die Wissenschaft, den Charakter […] des Menschen im weitläufigsten Verstande aus seinem Aeußerlichen zu erkennen“.¹ Als wichtigster Vertreter der Physiognomik ist der Schweizer Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller Johann Caspar Lavater (1741–1801) zu nennen. Zwischen 1775 und 1778 erschienen seine vierbändigen Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Mit dieser Publikation begann die beispiellose Mode des Gesichterlesens, und Lavater wurde zu einer europäischen Berühmtheit. Die Menschen pilger-ten zu ihm, um sich physiognomisch deuten zu lassen, Lavaters Netzwerk erstreckte sich über ganz Europa. Zu seinen Korrespondenzpartnern zählte auch Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829), der Oldenburger Hofmaler. Persönlich lernten sich die beiden im Mai 1781 kennen, als Tischbein die Gelegenheit erhielt, in Zürich bei dem äußerst prominenten Lavater vorzusprechen.
Die beiden Männer verstanden sich auf Anhieb. Tischbein quartierte sich in Zürich ein, führte von nun an mit Lavater intensive Gespräche über die Physiognomik sowie Malerei und bestaunte dessen Bildmaterial: „Es war eine Freude, mit ihm die vielen Porträts zu besehen, die er von den merkwürdigsten Menschen besaß. Man weiß, wie Lavater solche Porträts zu seinen physiognomischen Forschungen benutzte.“2
Als Tischbein im Oktober 1782 wieder aufbrach, um zurück nach Italien zu gehen, hatte er sich intensiv mit Lavaters physiognomischen Theorien auseinandergesetzt, die ihn bis zu seinem Lebensende nicht mehr loslassen sollten. Angeregt durch Lavater betrieb er fortan eigene physiognomische Studien und integrierte sie in sein künstlerisches Schaffen.
Ein Beispiel hierfür ist das Blatt mit einer Federzeichnung von sechs Charakterköpfen im Oldenburger Landesmuseum. Die männlichen Bildnisse sind in drei Reihen angeordnet und beschriftet. Über den einzelnen Köpfen in der mittleren Reihe heißt es: „Sanguinicus“; „2. Phlegmaticus“; „Colericus“; „4. Melancolicus“. Hier sind also die vier Persönlichkeitsmodelle aus der sogenannten Temperamentenlehre wiedergegeben: der heitere, lebhafte und leichtsinnige Sanguiniker, der langsame, ruhige und mitunter schwerfällige Phlegmatiker, der unausgeglichene und jähzornige Choleriker und der schwermütige, trübsinnige und manchmal misstrauische Melancholiker. Über und unter der mittleren Reihe hat Tischbein jeweils einen weiteren Kopf mit der Beischrift „temporare“ bzw. „temporare/gemischt“ platziert. Weitere Beschriftungen in den oberen Blattecken und am unteren Rand ergänzen die Charakterisierungen der Typen. Zum Phlegmatiker heißt es: „da kein wille zur freude aufblüht, so ist ihm alles gleichgültig“. Die Trübsinnigkeit des Melancholikers wird folgendermaßen erklärt: „da sein wille nicht aufglüht, so siehet er alles mit unzufriedenheit“. Darunter werden die einzelnen Charaktere nochmals gegeneinander abgegrenzt: „2. ist ein kranker Sanginicus, denn von ihm kann kein milancolicus werden, und vom Colericus kann kein flechmatiucs werden.“ In der linken oberen Ecke sind die Worte „Zeigungskraft / Lebensgeist / erfuhlen (?) / hervorbringen“ notiert, rechts oben heißt es: „Vernunft / stören / volbringen vollenden / bestätigt“.
Die männlichen Köpfe sind teils im Profil und teils im Dreiviertelporträt wiedergegeben. Sie scheinen leicht im Alter zu variieren, und auch ihre Frisuren sind individuell gestaltet. Vor allem aber sind die Physiognomien deutlich voneinander unterschieden. Die Größe und Form von Augen, Mündern und Nasen sowie die Ausprägungen des Kinns gestaltet Tischbein je nach Typus anders und suggeriert somit, dass unterschiedliche äußere Merkmale auf einen bestimmten Charakter hinweisen würden. Eindeutig handelt es sich hier um die visuelle Auslegung der Temperamentenlehre, die Tischbein bereits bei Lavater kennengelernt hat. Sie hat ihre künstlerische Anwendung in der Eselsgeschichte gefunden, einer Erzählung Tischbeins, die unter dem Titel „Der Schwachmatikus und seine vier Brüder, der Sanguiniker, Cholerikus, Melancholikus und Phlegmatikus, nebst zwölf Vorstellungen zum Esel“ von der Suche nach dem Weg der Glückseligkeit des Protagonisten, des sogenannten Schwachmatikus, erzählt. Auf der Titelillustration wird der Zusammenhang zum oben genannten physiognomischen Studienblatt deutlich: In der Kopfzeile finden sich vier unterschiedliche Charakterköpfe (die vier Brüder), während die Hauptdarstellung den Schwachmatikus auf dem Esel zeigt. Die Gesichtszüge des Schwachmatikus ähneln stark der Physiognomie des untersten Kopfes auf unserem Studienblatt. Es wird deutlich, dass Tischbein für seine Eselsgeschichte nach einer geeigneten Systematik menschlicher Temperamente strebte, und zwar in Form eines für den Maler anwendbaren Systems auf Basis von Lavaters Ideen.³
In Tischbeins Anwendung der unterschiedlichen physiognomischen Ausdrucksvarianten wird jedoch zugleich die Ambivalenz der physiognomischen Methode deutlich: Sie will von individuellen und reellen Physiognomien ausgehen, muss in ihrem Anspruch, eine systematische Wissenschaft zu sein, aber Regeln aufstellen und somit Typisierungen vornehmen. Als Tischbein Lavaters Lehren derart weiterentwickelte und künstlerisch umsetzte, hatte der Erfolg der Physiognomik seinen Zenit bereits überschritten, und entsprechende Studien galten als nicht mehr zeitgemäß. Sie stießen sogar zunehmend auf explizite Kritik und Vorbehalte. Heute spielt die Physiognomik – wie im übrigen auch die Temperamentenlehre – innerhalb der Wissenschaften keine Rolle mehr. Für Tischbein jedoch war sie Ideengeberin und Ausgangspunkt für seine eigenen künstlerischen Innovationen.
Literatur:
„Die Vier Unvergesslichen“ – Das russische Zarenhaus und der Oldenburger Hof in der Zeit von Lavater und Tischbein, Kat. Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, hrsg. v. Stefan Lehr/Anna Heinze, Oldenburg 2020, Kat. Nr. 41; Hermann Mildenberger (Hrsg.): Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Goethes Maler und Freund, Oldenburg 1986, Kat. Nr. 94; Lavater, Johann Caspar: Von der Physiognomik [1772], in: Ders.: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Bd. IV, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2009, S. 547–708; Reindl, Peter: Tischbeins Entwurf zu einer physiognomischen Systematik für den Historienmaler, in: Arne Friedrich, Fritz Heinrich u. Christiane Holm (Hg.): Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829). Das Werk des Goethe-Malers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur, Petersberg 2001, S. 75–102; Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm: Aus meinem Leben [1861], Berlin 1956.