Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Szene aus dem Leben des Jägers (nach einem Gemälde von Paulus Potter und Cornelis van Poelenburch), zwischen 1799 und 1806
Aquarell und Feder auf Karton, historische Montierung
Erworben 1930
Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg
Inv. 15.003
Stefanie Rehm
Der Oldenburger Hofmaler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829), bekannt als Goethe-Tischbein, hatte ein besonderes Faible für die Kunst der Niederlande des 17. Jahrhunderts. Bereits während seiner Lehrjahre in Hamburg studierte und kopierte er niederländische Künstler. Seine Faszination für die Meisterwerke des sogenannten „Goldenen Zeitalters“ führte ihn anschließend in den Jahren 1772 und 1773 zu einer intensiven Studienreise in die Niederlande. Später hielt er seine Begeisterung mit diesen Worten in seinen Lebenserinnerungen fest: „Ich hatte ein unwiderstehliches Verlangen Holland zu sehen. Das Land, wo die großen Maler gelebt haben und zum Teil noch ihre bewundernswürdigen Werke sind.“
Ein bezeichnendes Schicksal ereilte ein großformatiges Aquarell des Goethe-Tischbein, das zu seinen eindrucksvollsten grafischen Arbeiten gezählt werden kann. Es zeigt verschiedene heimische wie exotische Tiere, vom Pferd über Hirsch und Ziege bis hin zu Leopard und Elefant. Im Mittelpunkt der fabelartigen Erzählung steht ein Mensch, der von einem Zug von Tieren zum König der Tiere eskortiert wird. Die konventionellen Rollen zwischen Tier und Mensch sind vertauscht, sodass ein gefesselter Mann von einem aufrecht gehenden Bären vor ein tierisches Gericht geführt wird, dem ein Löwe mit einem Zepter in der Pfote vorsteht. Dieses Motiv veranlasste die Tischbein-Forschung wiederholt dazu, das Aquarell dem Motivkreis des Reineke Fuchs zuzuordnen.
Bei Reineke Fuchs handelt es sich um ein Werk von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), ein Epos mit 4.312 Versen in zwölf Gesängen, das 1794 erschienen ist und seinen Ursprung im 15. Jahrhundert hat. Gegenstand sind die Lügengeschichten des listigen und namensgebenden Reineke Fuchs, dessen Intrigen im neunten Gesang vor dem Rat der Tiere verhandelt werden. In der Tat interessierte sich Tischbein für anthropomorphe Gestalten und Verhaltensweisen – wie bei der druckgrafischen Edition der Tiercharaktere (Têtes) und dem unveröffentlichten illustrierten Romanprojekt Eselsgeschichte. In diesem Sinne fertigte er auch verschiedene Illustrationen zu Goethes Reineke Fuchs. Den Höhepunkt und Abschluss der kreativen Auseinandersetzung mit dem literarischen Vorbild zeigt Tischbeins Gemälde Der Rat der Tiere aus dem Jahr 1822.
Vor diesem Hintergrund verwundert eine Identifikation des Aquarells Tischbeins als eine vermeintliche Illustration zu Goethes Versen nicht und erklärt die Betitelung als „Reineke Fuchs. Gerichtsszene aus Der Rat der Tiere“ oder „Der Mann von den Tieren gefangen und vor Gericht gestellt“. Bei genauerer Betrachtung des Bildgegenstandes offenbart sich jedoch ein ganz anderer inhaltlicher und motivischer Ausgangpunkt: Es handelt sich bei der gezeigten Szene um eine detailgetreue Kopie aus einer einzigartigen Bildertafel von Paulus Potter (1625–1654) und Cornelis van Poelenburch (1694–1667), zwei renommierten niederländischen Malern des 17. Jahrhunderts. Das um 1650 entstandene Gemälde auf Holz zeigt nebeneinander 14 verschiedene Szenen aus dem Leben des Jägers. Nur mit dieser Vorlage ist erklärbar, warum ein Mensch statt des gewieften Fuchses vor den Rat der Tiere geführt wird. Übereinstimmend ist hingegen, dass der Löwe als König der Tiere in Erscheinung tritt und der Bär zu den Protagonisten des Geschehens zählt. Die Gemäldevorlage, die sich seit 1814 bis heute in der Ermitage in St. Petersburg befindet, war bis 1806 und den Napoleonischen Kunstraubzügen Teil der Gemäldesammlung der Landgrafen von Hessen-Kassel, wo Tischbeins älterer Bruder Johann Heinrich Tischbein d.J. (1743–1808) als Galerieinspektor tätig war. Es ist davon auszugehen, dass Tischbein das Gemälde nach seiner Rückkehr aus Italien im Jahr 1799 bei seinem Aufenthalt in Kassel gesehen und kopiert hat. Durch die historischen Daten kann das Aquarell zwischen 1799 und 1806 datiert werden, entgegen der bisherigen Annahme es sei nach 1808 oder um 1821 im Kontext von Tischbeins Auseinandersetzung mit Reineke Fuchs entstanden. Darüber hinaus sind Reproduktionen von weiteren einzelnen Szenen der niederländischen Bildertafel von Johann Heinrich Tischbein d.J. überliefert, welche die Kasseler Provenienz bestätigen. Unterhalb des Bildes ist dort zu lesen: „Nach einem Original Gemählde von P. Potter aus der Fürstl. Gallerie zu Cassel. 1786.“
So verlockend ein Zusammenhang zwischen Tischbein und Goethe oft erscheinen mag, um die Bezeichnung Goethe-Tischbein zu illustrieren und jenseits des berühmten Dichterporträts zu untermauern, führt er die Tischbein-Forschung mitunter auf Irrwege und versperrt den Blick auf den hervorragenden Zeichner und Tierspezialisten Tischbein, dem die niederländische Kunst eine unvergleichliche Inspirationsquelle bot.
Literatur:
Stefanie Rehm: Tischbein und die Kunst des ‚Goldenen Zeitalters‘ - Rezeptionsgeschichte(n) um 1800, Heidelberg 2020 (freier Zugang unter: https//doi.org/10.11588/arthistoricum.619).
Hermann Mildenberger: Johann Wolfgang Goethe. Reineke Fuchs. Mit Aquarellen und Auszügen aus der ‚Gänsegeschichte‘ von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Frankfurt/Leipzig 2004.
Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Goethes Maler und Freund, Kat. Landesmuseum Oldenburg, Oldenburg 1986, Kat. Nr. 123.
Kuno Mittelstädt: Heinrich Wilhelm Tischbein – Aus meinem Leben, Berlin 1956.