Unbekannter Meister, Kümmernis, um 1500
Eiche bemalt
Erworben 1890
Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg
Inv. 4.824
Eike Lossin
Die Kümmernis: Von bärtigen Frauen, wundertätigen Gnadenbildern, Frau Wurst und dem ESC
Der Österreicher Thomas Neuwirth wird manchen vermutlich unbekannt sein, noch eher aber wohl sein Alter Ego: In großer Abendgarderobe gewann er als Conchita Wurst 2014 den European Song Contest (ESC). Was für konservative ESC-Fans zum Beispiel für den kulturellen Niedergang des Kontinents gereichte und ob der Kombination von weiblichen und männlichen Attributen irritierte, geriet für Menschen, die bislang als transsexuell oder transgender im Alltag Vorurteilen und Repressalien ausgesetzt waren, durch Neuwirths Sieg im Gesangswettbewerb zum befreienden Akt.
Was war geschehen? Mit langer Perücke und in ein hautenges Kleid gehüllt hatte er seine Kunstfigur mit einem gepflegten Vollbart verfremdet und damit eindeutige geschlechtliche Zuweisungen unmöglich gemacht. Dies beschwor – fernab der Siegeseuphorie – auch homophobe wie sexistische Polemiken vor allem ost- aber auch westeuropäischer Politiker herauf. Für sie waren nicht nur die Äußerlichkeiten eine Provokation, auch der Songtitel „Rise Like a Phoenix“ kündigte die unaufhaltsame Emanzipation geschlechtlich nicht zu klassifizierender Menschen an – ein Affront für chauvinistische Männer.
Pastoraltheologen hatten zur Analyse und Erklärung von Neuwirths Erfolg schnell eine imaginäre Figur der europäischen Kulturgeschichte zur Hand: die Wilgefortis. Heute kennen wahrscheinlich nur Wenige diese einst populäre Heilige, anderen mag sie als Heilige Kümmernis oder (niederländisch) als Sint Ontcommer geläufig sein.
Die Legende um diese nicht offiziell heiliggesprochene Frau geht ins späte Mittelalter zurück. Ihr Kult entstand im 14. Jahrhundert in den damaligen Niederlanden, vermutlich in Brügge oder Gent. Von dort geschah die räumliche Ausbreitung über Norddeutschland, den Rhein aufwärts und nach Westfalen bis schließlich nach Süddeutschland, in die Schweiz und nach Österreich. Der Inhalt der Legende ist im Kern, fernab von Varianten, stets sehr ähnlich: Als Tochter eines portugiesischen Königs war Kümmernis einem heidnischen König zur Frau versprochen, wogegen sich die heimlich zum Christentum konvertierte Jungfrau wehrte. Ihr Vater ließ sie einkerkern, um ihr ein Einlenken abzupressen. In Haft erflehte sie Gottes Hilfe und ihre Bitte, sie grässlich zu verunstalten, fand tatsächlich Gehör: Ihr wuchs ein Bart. Außerdem ließ sie nicht vom Christentum ab, worauf sie der herzlose Vater kreuzigen ließ. Zur göttlichen Bestätigung ihres Märtyrerinnentodes geschah post mortem an ihrem Kreuz ein Wunder.
Die hier gezeigte Kümmernis erscheint indes bartlos, was einen interessanten ikonografischen Befund zur zeitlichen Einordnung enthält. Ende des 15. Jahrhunderts aus Eichenholz geschnitzt und farbig gefasst, stammt sie aus der Kirche St. Johannes Baptist in Molbergen (Landkreis Cloppenburg) und entspricht – gekrönt und in ein gegürtetes Colobium (eine spätantike Form der Tunika) gekleidet – einer Kreuzigungsdarstellung aus Italien. Dort, in der Kathedrale von Lucca wurde bereits seit dem Ende des 11. Jahrhunderts ein Gnadenbild verehrt, das den Gekreuzigten in frühchristlicher Darstellungstradition ebenso gekleidet und bekrönt zeigt. Der als Volto Santo (lat. vultus sanctus, „heiliges Antlitz“) Angebetete machte Lucca zu einem wichtigen Pilgerort des Mittelalters. Von hieraus verbreitete sich dieser Bildtypus in viele europäische Regionen – und so offenbar auch nach Molbergen.
Bei dieser ikonografischen Entwicklung haben wir es also einerseits mit einer Kombination der Kümmernis und dem Volto Santo zu tun. Zugleich ist auch ein kultureller Reimport einer Darstellungsweise des Volto Santo zu konstatieren, die unterstützt durch das europäische Pilgerwesen von den Gläubigen im Nordwesten als Darstellung der Kümmernis interpretiert wurde. Weder Gläubige noch Kirchenvertreter hatten in der Hochzeit des Kultes im 17. und 18. Jahrhundert Anstoß an dieser „zweigeschlechtlichen“ Figur genommen. Auch, dass sie „als gekreuzigte Frau mit Bart dem Gottmenschen noch ähnlicher als die Muttergottes“ (Meier 2014) war, wurde in dieser Zeit offenbar geduldet. An der Verbreitung des Kümmerniskultes waren mittelalterliche Frauenkonvente maßgeblich beteiligt, vor allen die im heutigen Belgien und in den Niederlanden nach wie vor existierenden Beginen. Mystikerinnen solcher Orden imitierten Christus durch ihre Identifikation mit Kümmernis, die letztlich eine „virtuelle Möglichkeit der Geschlechtertransgression zur Existenz in einer mystischen Einheit“ mit Christus gewährte (Fritsch-Staar 1998, S. 137–138).
Zuletzt sei noch die Wundertätigkeit der Kümmernis erklärt: Einst spielte ein armer Spielmann auf seiner Geige vor dem Bildnis der „Heiligen“. Zur Belohnung streifte es einen seiner goldenen Schuhe ab, woraufhin der Spielmann des Diebstahls angeklagt wurde. Seine Unschuld bewies er, als er erneut vor ihrem Bildnis spielte und Kümmernis ihm auch den zweiten Schuh zuwarf. Seitdem galt sie nicht nur als Fürsprecherin bei Liebeskummer, ehelichen Nöten und Frauenleiden sondern auch als Patronin der Bäcker, Wirte und vor allem der Spielleute. Hiermit schließt sich der Kreis zu Conchita Wurst, von der allerdings nicht belegt ist, ob sie sich vorab des ESC flehentlich an Kümmernis gewandt hatte.