Erich Heckel, Szene im Wald (Akte in Waldlichtung), 1910
Lithographie
erworben 1984 als Schenkung aus dem Nachlass von Ernst und Hanneliese Beyersdorff
Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg
Inv. 14.685
Zoe Marie Achtsoglou und Juliane Peil
Erich Heckels Lithografie Szene im Wald zeigt eine Waldlichtung, auf der sich vier weibliche Personen ausruhen: zwei unbekleidete Aktmodelle, eine bekleidete Frau sowie ein unbekleidetes Mädchen, das unbeholfen aus einer Hängematte zu steigen scheint. Der gewählte Bildaufbau erzeugt sowohl Nähe als auch Distanz. Obwohl die Gruppe aus der Ferne betrachtet wird, ermöglicht die Anordnung der Bäume einen voyeuristischen Blick auf die intime Szene.
Das Blatt wurde erstmals 1922 im Rahmen der ersten Ausstellung der Vereinigung für junge Kunst unter dem Titel Nach dem Bad im Oldenburger Lappan gezeigt. Erschienen ist es bereits elf Jahre zuvor, als die BRÜCKE ihre sechste Jahresmappe Erich Heckel widmete, welche drei Blätter des Künstlers enthielt: die Lithografie Szene im Wald, den Farbholzschnitt Fränzi stehend und die Kaltnadelradierung Straße am Hafen. Der Umschlag wurde von Max Pechstein entworfen.
Der nackte menschliche Körper trat in der bildenden Kunst vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zumeist in mythologischen, biblischen und historischen Motiven in Erscheinung, welche vor dem Hintergrund strenger moralischer Vorstellungen von Sexualität die Möglichkeit boten, den unbekleideten Körper darzustellen. Durch die Urbanisierung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert kam es zu einer Verschlechterung der städtischen Lebensbedingungen und das traditionelle Menschenbild in der Kunst wurde aufgebrochen. Umweltverschmutzung, Lärm, harte Arbeit, Armut und beengte Wohnverhältnisse prägten das Leben. Als Gegenentwurf hierzu wurde vor allem in Deutschland die Lebensreformbewegung populär. Deren Anhänger strebten nach dem Einklang von Mensch und Natur. Hierbei lag ein Schwerpunkt auf einem vermeintlich natürlichen und ursprünglichen Leben, geprägt von Freikörperkultur, Sport und einem friedvollen Miteinander. Das Motiv des nackten Körpers wurde nun sinnbildhaft genutzt und zum Inbegriff der Loslösung von zivilisatorischen Gütern. Auch bei den Künstlern der BRÜCKE – deren Mitglied Erich Heckel war – stieß dieser Gedanke auf Anklang.
Die Künstler der BRÜCKE wendeten sich von der konventionellen Lehre der Akademien ab und suchten nach einer Möglichkeit der Abgrenzung von den starren gesellschaftlichen und moralischen Regeln. Die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit zu propagieren, war für die Mitglieder der Künstlergemeinschaft ein Befreiungsakt. In ihren Annahmen waren sie jedoch nicht frei von kolonialistischem und rassistischem Gedankengut. Neben den Idealen der Lebensreformbewegung hatten volkskundliche Motive und Ausdrucksformen großen Einfluss auf die Bildfindungen der Künstler. Im Leben der indigenen Völker fanden sie Inspiration für die Darstellung eines scheinbar ursprünglichen Lebens.
Die Gewalt- und Herrschaftsmechanismen, denen vermeintlich primitivere Lebensweisen unterworfen, ließen die Künstler dabei zumeist außer Acht. In Museen und sogenannten Völkerschauen fanden sie Anregungen für ihre Werke. Pechstein und Nolde reisten selbst auf die Südseeinseln Palau bzw. nach Neuguinea.
In den Sommermonaten der Jahre 1909 bis 1911 zogen die Künstler mit ihren Modellen an die Moritzburger Teiche nördlich von Dresden, um in der Abgeschiedenheit der Natur ein freies Leben zu praktizieren und die nackten Modelle in natürlicher Bewegung in der Landschaft zu studieren. Aufgrund ihrer vielfach unberührten Gewässer mit schilfbewachsenen Uferzonen in waldreicher, hügeliger Umgebung waren die Moritzburger Teiche eine ideale Kulisse. Für ihre Arbeit und ein freizügiges Leben suchten sich die Künstler ruhige, unbeobachtete Stellen vorwiegend am Nordwestufer des Dippelsdorfer Teichs mit der ihm vorgelagerten kleinen Insel. Den Überzeugungen der Lebensreformbewegung zum Trotz war ein unbekleidetes Baden in der Öffentlichkeit an nicht ausgewiesenen Stätten verboten und konnte bestraft werden. Hinweise darauf, dass die Künstler die nahegelegene Badeanstalt an den Teichen besuchten, in der auch das nackte Baden erlaubt war, gibt es nicht.
Im Einklang mit der Natur wurde eine sinnliche Erotik nicht als rückständig oder schambehaftet, sondern als befreit und natürlich wahrgenommen. In der Nacktheit junger Kinder sahen sie das Authentische und Natürliche. Eine Vielzahl an Skizzen und Werken entstand in diesen Sommermonaten – so vermutlich auch die Vorlage zu der Lithografie Szene im Wald. Hierbei spielten die landschaftlichen Reize der Moritzburger Teiche nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr standen der weibliche Akt und das unbefangene Leben im Mittelpunkt.
Vor diesem Hintergrund müssen die Darstellungen der Kinderkörper, teils in expliziten Stellungen mit den Künstlern abgebildet, hinterfragt werden. Zwar hat die Darstellung des nackten Kinderkörpers in der Kunstgeschichte Tradition, doch stellten die BRÜCKE-Künstler kein Idealbild, sondern Kinderakte dar. Im Briefwechsel zwischen Heckel und Kirchner, der nicht für die Öffentlichkeit verfasst wurde, wurde teils obszön über Minderjährige gesprochen. Obwohl den Künstlern kein sexueller Missbrauch nachgewiesen werden kann, steht die Frage im Raum, ob die Kinder nichtsdestotrotz – auf psychischer oder monetärer Ebene – missbraucht wurden. Beispielsweise war das jüngste BRÜCKE-Modell Fränzi erst acht Jahre alt, als sie sich für die Künstler entkleidete.
Die Künstlergemeinschaft BRÜCKE wurde 1905 von Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Fritz Bleyl und Ernst Ludwig Kirchner in Dresden gegründet. Später traten Otto Mueller, Max Pechstein, Emil Nolde und Kees van Dongen für eine kurze Zeit der Gruppe bei. Erich Heckel wurde 1883 in Döbeln geboren. Schon während seiner Schulzeit in Chemnitz betätigte er sich künstlerisch und lernte Karl Schmidt-Rottluff kennen, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. Nach dem Abitur begann er 1904 ein Architekturstudium. In dieser Zeit befreundeten sich Heckel und Schmidt-Rottluff mit den anderen Gründungsmitgliedern der BRÜCKE. Die vier Kommilitonen brachen ihr Studium ab und widmeten sich der Kunst. Um der Gruppe mehr Sichtbarkeit zu verleihen und eine finanzielle Grundlage zu schaffen, gaben die Künstler der BRÜCKE ab 1906 Jahresmappen an passive Mitglieder der Vereinigung aus. Für einen Jahresbeitrag von 12 Mark erhielten diese zudem eine Mitgliedskarte und einen Rechenschaftsbericht. Auch Ernst Beyersdorff, Oldenburger Jurist und Gründer der Vereinigung für junge Kunst, war passives Mitglied der Gruppe.
Die Lithografie ergänzt bis zum 12. Mai 2024 nicht nur die Kabinettausstellung „Waldrauschen“, sondern wird auch vom 21. Mai bis zum 29. September 2024 im Rahmen der Kabinettausstellung „Perspektivwechsel!“ im Prinzenpalais präsentiert.
Literatur:
M.Moeller (Hrsg.), Die Jahresmappen der "Brücke" 1906-1912 (Berlin 1989); K. Schupke - D.J. Schreiber (Hrsg.), Die Brücke und die Lebensform (Feldafing 2016)